Blasenprobleme bei MS - ein unterschätztes Problem

Blasenprobleme bei MS - ein unterschätztes Problem

Autor: Anika Biel, Fachärztin für Urologie, med. Tumortherapie Sexualmedizin, ärztliches Qualitätsmanagement

Einleitung

Multiple Sklerose ist eine Erkrankung mit sehr unterschiedlichen Symptomen, Blasenbeschwerden können eines davon sein. In verschiedenen Studien konnte man eine Prävalenz für eine Blasendysfunktion von 65-95 % nachweisen [1]. Die urologischen Beschwerden bei MS umfassen sowohl Symptome einer überaktiven Blase als auch Blasenentleerungsstörungen. Zusammengefasst wird dies unter NLUTD (Neurogenic lower urinary tract dysfunction). Die Folgen sind für die Patienten sehr unangenehm und können zu einer starken Beeinträchtigung der Gesundheit sowie des sozialen Lebens führen. Trotz des häufigen Auftretens wird die Diagnostik oft nur unzureichend durchgeführt.[2]

 

Auswirkungen von MS auf die Blasenfunktion

Eine MS Erkrankung verläuft typischerweise in unterschiedlichen Phasen ab, daher können auch die Symptome stark schwanken. Eine häufig auftretende Dysfunktion ist die überaktive Blase. Dies führt zu einem (unkontrollierten) Harndrang bei noch nicht vollständig gefüllter Blase, unter Umständen auch kombiniert mit einem ungewollten Urinverlust (Dranginkontinenz). Nahezu ebenso häufig kommt es im Laufe der Erkrankung zu einer Restharnbildung, also dem Unvermögen, die Blase komplett zu entleeren.[3]

 

Konsequenzen der Nichtbehandlung

Insbesondere die Diagnostik und Behandlung von Restharn sollte konsequent erfolgen. Eine unvollständige Blasenentleerung kann der Nährboden für Harnwegsinfektionen (Zystitis) und Entzündungen der Nieren (Pyelonephritis) sein. Diese wiederum können für einen neuen MS-Schub oder einen Rückfall bei schon abklingenden Symptomen verantwortlich sein.[4] Die Urosepsis in Folge von Harnwegsinfektionen ist die häufigste mit MS assoziierte Todesursache.[5]

Desweiteren kann eine sehr lange unbehandelte Restharnbildung auch zu einem Urinaufstau bis in die Nieren führen. Letztendlich kann das eine Niereninsuffizienz zur Folge haben und sollte auf jeden Fall verhindert werden.

Darüber hinaus empfinden MS Patienten Blasenprobleme häufig als sehr belastend und sozial einschränkend,[6] auch weil das Thema oftmals als Tabu empfunden und von medizinischer Seite nicht immer ausreichend beleuchtet wird.

 

Diagnostikmöglichkeiten/ Blasenscreening

Auf europäischer Ebene gibt es aktuell keinen internationalen Standard bei der Diagnostik oder dem Screening von Blasenproblemen bei MS-Patienten. Die Spannbreite reicht von keiner Überprüfung bis hin zu regelmäßigen Untersuchungen mittels Sonographie oder Urodynamik.[7]

Ein sehr wichtiges Element ist eine umfassende und regelmäßige Schulung von MS-Patienten über mögliche urologische Beschwerden und die Wichtigkeit der Erkennung von diesen. So kann gewährleistet werden, dass Patienten ihrem behandelnden Neurologen von den Beschwerden berichten. Dieser kann dann eine weitere Überprüfung oder eine fachärztliche urologische Diagnostik/ Behandlung einleiten. Obwohl diese Patientenschulung sehr wichtig ist, ist sie alleine nicht ausreichend. In Studien [8] konnte schon vor Jahrzehnten nachgewiesen werden, dass eine Therapie, die ausschließlich auf von Patienten berichteten Beschwerden beruhte nur ca. 50 % der Erkrankten erfasste, auch da vielen Betroffenen ihre Blasenprobleme nicht bewusst sind. Würde man also die Diagnostik und Therapie der urologischen Problematik nur auf die berichteten Symptome stützen, wären bis zu 50 % der Patienten mit einer urologischen Krankheitskomponente nicht versorgt. Eine Sensibilisierung der Patienten kombiniert mit einer strukturierten Diagnostik ist somit für eine verbesserte urologische Versorgung entscheidend.

Eine Möglichkeit einer genaueren Erfassung von einer Blasenproblematik ist ein regelmäßig durchgeführtes Blasenscreening. Domurath et al [9] hat ein solches Instrument validiert. Das Endprodukt ist ein Patientenfragebogen mit acht Multiple Choice Fragen zur Blase und urologischen Symptomen. Es wurden bei den Antworten gelbe und rote Flaggen als Warnsignale definiert.

Ab einer gelben Flagge als Antwort ist eine sonographische Restharnmessung und eine Uroflowmetrie vorgesehen. Bei einer roten Flagge ist eine weiterführende neuro-urologische Diagnostik notwendig. Dies kann zum Beispiel eine Urodynamik sein. So werden wichtige, möglicherweise sonst unentdeckte Symptome systematisch erfasst und können weiterverarbeitet werden.

 

Ausblick

Urologische Symptome sind bei einer MS-Erkrankung weiterverbreitet als im Allgemeinen angenommen. Aufgrund der möglichen, auch schwerwiegenden Risiken sowie der hohen psychosozialen Belastung durch eine Nichtbehandlung ist es sinnvoll sowohl die Patienten zu schulen als auch ein regelmäßiges Blasenscreening durchzuführen. Dies betrifft auch vermeintlich asymptomatische Patienten.

 

Literatur

[1] Khalaf, K.M. et al, 2015. Lower Urinary tract symptom prevalence and management Among patients with multiple sclerosis. Int. J. MS Care 17 (1), 14–25. https://doi.org/10.7224/1537-2073.2013-040.

[2] Mahajan. S.T. et al, 2010. Undertreatment of overactive bladder symptoms in patients with multiple sclerosis. An ancillary analysis of the NARCOMS Patient Registry. Neurology 1 3:1432–7. DOI: 10.1016/j.juro.2009.12.029

[3] Litwiller, S.E. et al, 1999 Multiple Sclerosis and the Urologist. The Journal of Urology 161, 743–757. DOI: 10.1016/S0022-5347(01)61760-9

[4] Correale, J. et al, 2006 The risk of relapses in multiple sclerosis during systemic infections. Neurology, 67:652-659. DOI: 10.1212/01.wnl.0000233834.09743.3b

[5] Harding K. et al, 2020 Multiple cause of death analysis in multiple sclerosis: A population-based study. Neurology 25;94(8):e820–e829. DOI: 10.1212/WNL.0000000000008907

[6] Nortvedt. M.W. et al, 2001 Reduced quality of life among multiple sclerosis patients with sexual disturbance and bladder dysfunction. Multiple Sclerosis 7, 231–235. DOI: 10.1177/135245850100700404

[7] Domurath, B. et al, 2021 Aktuelles zu neurogenen Dysfunktionen des unteren Harntraktes bei Multipler Sklerose. Der Nervenarzt; DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-020-01046-0

[8] Blaivas, J.G., 1980. Management of bladder dysfunction in multiple sclerosis. Neurology 30 (7 Pt2), 12–18. https://doi.org/10.1212/wnl.30.7_part_2.12.

[9] Domurath, B. et al, 2020 Neurourological assessment in people with multiple sclerosis (MS): a new evaluated algorithm; DOI: https://doi.org/10.1016/j.msard.2020.102248

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